Bedürfnisse, Wünsche und die Realität

Über bedürfnissorientierte Erziehung und Menschlichkeit

„NEIN! ICH! WILL! NICHT!“

Mein Herz rast, meine Geduld ist am Ende und ich versuche, nicht durchzudrehen. Scharf ziehe ich die Luft durch meine Nase ein und atme laut und lang wieder aus. Meine Tochter sieht mich an und sie weiß: ich bin sauer. Aber (auf)hören? „Gehorchen“? An ihrem Blick sehe ich, dass sie auf mich hören möchte, aber sie möchte auch ausprobieren, was passiert, wenn sie es nicht tut. Und sie hat keinen Bock, will das machen, was sie möchte.

Und jetzt?

Fast jeder Mensch, der mit Kindern, vor allem Kleinkindern, zu tun hat, kennt diese Situation.

Manchmal werde ich verdammt wütend. So wütend, dass ich mich dann frage, wieso ich so unglaublich wütend bin. Aber dann kann ich nicht anders und bleibe hart – und sauer. Ich sage dann zu allem nein und antworte harsch. Woher kommt meine Wut?

Unterdrückte Wut aus der Kindheit

Es gibt Theorien und sogar Studien, die sagen, dass diese Wut in uns, den Eltern, aus unserer eigenen Kindheit kommt. Manchmal erinnert sich unser Unterbewusstsein in bestimmten Situationen daran – an die Wut, die wir als Kinder unterdrücken mussten, weil es uns nicht erlaubt wurde, diese raus zu lassen.

Klingt weit her geholt? Ich musste diese Theorie auch erst einmal verdauen. Und dann habe ich mich weiter informiert und sogar meine eigenen „Beweise“ gefunden!

Wann immer meine Mutter zu Besuch ist, fällt es mir ganz besonders auf. Sie selbst wurde erzogen im Glauben – und ist noch immer der Ansicht – Kinder müssten „hören“, also gehorchen. Wenn meine Tochter dann aber nicht gehorcht, wie ein abgerichteter Hund, wird meine Mutter nervös. Und das macht mich nervös. Sie sagt manchmal dann so Sachen wie: „Das geht aber nicht, dass Fräulein Chaos nicht hört.“

Das setzt mich unter Druck. Ich will natürlich, dass meine Mutter mich für eine gute Mutter hält. Ich will dann, dass die Tochter hört.

Eltern, wie sollen eure Kinder später mal sein? Was wünscht ihr euch für sie?

Und das ist der Knackpunkt.

Wenn man Eltern fragt, was sie sich für ihre Kinder wünschen, zu was für Menschen man sie erziehen möchte, dann hört man Dinge wie:

Ich möchte, dass mein Kind

  • respektvoll, selbstbewusst, selbstständig ist
  • auch Nein sagen kann
  • auf sich und sein Umfeld achtet

und diese Werte für sich verinnerlichen kann.

Die Erziehung, die meine Eltern an den Tag gelegt haben und die Generationen vor ihnen, ist aber nicht darauf ausgelegt, dass das passiert.

Denn was passiert, wenn man Kindern Gehorsam beibringen will? Man lobt und tadelt, hält sie klein, bringt ihnen bei, dass sie es nicht besser wissen oder können als die Erwachsenen. Lernen Kinder so Selbstständigkeit und Respekt?

Gerade das, was im Kindesalter passiert, ist mit ausschlaggebend, wie wir uns später im Leben verhalten. Auch, wenn wir uns an vieles aus der Kindheit nicht erinnern können: unser Unterbewusstsein „erinnert“ sich an Gefühle, die plötzlich auftreten, wenn wir uns in einer ähnlichen Situation befinden, wie sie im Kindesalter stattfand.

Ein unterschätzer Teil unserer Kindheit ist die sogenannte Trotzphase – ich nenne sie lieber Autonomiephase. Aus Unwissenheit und wegen ihrer eigenen Erziehung wurde uns von den Eltern oft nicht erlaubt, unsere Wut heraus zu lassen. Wenn meine Tochter nun wütend wird, werde ich es oft auch. Weil ich diese Wut in meiner Kindheit in mich reinfressen und unterdrücken musste.

Ich merke jeden Tag, wie hart es ist, diesen Kreislauf zu durchbrechen. Den Menschen meiner Generation und denen davor wurden Lob und Strafe als DIE zwei Erziehungswerkzeuge mitgegeben.

Das darf man nicht falsch verstehen. Es geht nicht darum, Kinder antiautoritär zu erziehen oder kein nettes Wort zu verlieren. Im Gegenteil, konsequent zu sein gehört ebenso zu einer guten Erziehung wie dem Kind Aufmerksamkeit zu schenken.

Bedürfnisorientierte Erziehung

Was uns zum Thema und zurück zur Überschrift bringt. Bedürfnisorientierte Erziehung bedeutet vor allem, dem Kind auf Augenhöhe zu begegnen. Es bedeutet, dass Kinder ihre Gefühle zum Ausdruck bringen dürfen, egal ob sie positiv oder negativ sind. Und es bedeutet, aufzuhören, sie zu manipulieren. Denn nur nett zu sein (zu „loben“), wenn sie sich so verhalten, wenn es uns gefällt – das ist Manipulation. Es klingt hart, aber man muss mal drüber nachdenken.

Im ersten Lebensjahr eines Kindes bedeutet diese bedürfnisorientierte Erziehung, wie es der Name schon sagt, seine Bedürfnisse zu erfüllen.

Dazu gehört aber nicht nur Hunger, Schlaf und Schutz, sondern vor allen Dingen Nähe und Körperkontakt. Es ist hart, das Baby niemals ablegen zu können. Aber Babys brauchen die Nähe ihrer Bezugspersonen. Aus dem Mutterleib sind sie es gewohnt, dass es warm ist, sie den Herzschlag hören und dass sie bewegt werden.

Sie kommen auf die Welt und auf einmal sollen sie alleine im Bettchen liegen, ohne Herzschlag und Bewegung?

Eine sehr schöne Möglichkeit, das Bedürfnis nach Nähe von Babys zu erfüllen, sind Tragetücher.

Meine Tochter, bald 4 Jahre alt, war ein Schreibaby. Wir hatten gar keine andere Wahl, als sie wortwörtlich den ganzen Tag lang mit uns herumzutragen. Ablegen und Schreienlassen war keine Alternative.

Nach dem ersten Jahr, wenn unsere Kinder langsam beginnen, Worte zu verstehen, geht es um die Kooperation. Sie sollen nicht gehorchen, sondern kooperieren. Es geht um ein Miteinander, nicht darum, als Elternteil seine Machtposition auszunutzen.

Bedürfnisorientierte Erziehung heißt also, Kindern auf Augenhöhe zu begegnen, sie nicht zu Dingen zu zwingen, sondern ihre Kooperationsbereitschaft zu fördern. Sie nicht durch Lob zu einem bestimmten Verhalten zu manipulieren, sondern sie zu sehen.

Welchen Satz sagen Kinder am häufigsten?

Schau mal Mama/Papa/Oma/Opa/andere Person…“

Kinder wollen gesehen werden. Nicht zu loben ist schwer, weil wir es so gelernt haben. Unsere Eltern haben uns gelobt, wenn wir uns so verhalten haben, wie sie es wollten.

Aber wie kann man seinen Kindern dann diese Aufmerksamkeit schenken? Es ist ungewohnt, aber versucht doch mal, einfach zu verbalisieren, was eure Kinder gerade machen. Statt zu sagen: „Oh toll, wie hoch du klettern kannst!“, könnte man eben beschreiben, was sie tun: „Du bist auf dem Gerüst ganz nach oben geklettert.“

Es ist wirklich merkwürdig und ich komme mir da manchmal komisch vor. Aber es funktioniert. Kindern ist es nicht wichtig, was ihr genau sagt. Sie brauchen einfach das Gefühl, in dem Moment wahrgenommen zu werden.

Auch bei Wutanfällen hilft es ungemein, die Dinge in Worte zu fassen. Nehmt euer Kind in den Arm. Manche Kinder mögen das nicht, dann sollte man sich neben sie setzen. Eben auf Augenhöhe mit dem Kind gehen. Man kann sagen: „Du bist wütend! Und das verstehe ich. Ich wäre auch wütend. Aber du kannst jetzt leider nicht noch ein Stück Schokolade essen/nicht länger hier spielen/….“

Es ist schwer auszuhalten, wenn das Kind traurig oder wütend ist und man hat direkt das Bedürfnis, das Weinen, Schreien oder Genörgel abzuschalten. Aber das Tolle an Kindern ist doch eben genau das: sie unterdrücken ihre Gefühle nicht. Wir müssen sie dabei unterstützen. Damit sie als Erwachsene nicht mit unterdrückter Wut zu kämpfen haben, wie wir.

Lasst uns den Kreislauf durchbrechen!

Besonders gut gefallt mir der Blog „gewünschtes Wunschkind“. Unter dem Link https://www.gewuenschtestes-wunschkind.de/p/erziehung.html gibt es unzählige Erziehungstipps, die alle sehr ausführlich und liebevoll geschrieben sind und die ich euch hier ans Herz legen kann. Durch diesen Blog kam ich überhaupt erst auf diesen Erziehungsstil.

Theorie und Praxis sind hier natürlich zwei verschiedene Dinge. Ich arbeite hart an mir und versuche, den Kreislauf der „alten“ Erziehung zu durchbrechen.

Aber ich bin eben auch nur ein Mensch!

Leider gelingt mir das auch nicht immer so. Gerade in unserer Gesellschaft, in der es normal ist, dass ein Elternteil (meistens die Mama) sich die meiste Zeit des Tages alleine um das Kind/die Kinder kümmert.

So kommt es immer wieder vor, dass ich, besonders morgens nach dem Aufstehen und im Laufe des Tages die Geduld verliere und in alte Muster verfalle. Irgendwann ist der „Akku“ leer.

Es hilft, sich zu besinnen und zu überlegen, warum man z. B. gerade „nein“ sagt, oder ein bestimmtes Verhalten des Kindes ändern möchte. Ist es aus Bequemlichkeit? Will ich, dass meine Tochter etwas unterlässt, weil ich einfach keine Lust habe, danach aufzuräumen/zu wischen/sauber zu machen?

Es hilft auch, sich Freiräume zu schaffen. Man kann schon sehr kleine Kinder daran gewöhnen, dass es kleine Zeiträume am Tag gibt, in denen Mama in Ruhe ihren Kaffee trinken darf. Natürlich macht man das nicht, wenn das Kind gerade ein Bedürfnis wie Hunger hat. Aber wenn soweit alle Bedürfnisse erfüllt sind und du deinem Kind Aufmerksamkeit geschenkt hast (auch das ist ein Bedürfnis – und zwar ein sehr großes!), dann kann man das kommunizieren:

„Liebes Kind, Mama/Papa ist jetzt erschöpft und möchte kurz 10 Minuten ausruhen und einen Kaffee trinken/die Zeitung lesen etc. Danach können wir wieder zusammen spielen/ich lese dir etwas vor.“

So können selbst kleine Kinder lernen, sich auch mal kurz alleine zu beschäftigen. Und Mama oder Papa können danach wieder etwas entspannter „an die Sache“ ran gehen.

Ich versuche auch, wenn Papa nach Hause kommt, mal eine halbe Stunde aus dem Raum zu gehen und diese Zeit für mich allein zu nutzen. Manchmal koche ich einfach oder kaufe was ein, lese etwas oder erledige einfach was in einem anderen Zimmer. Das hilft mir ungemein, später beim Abendessen, im Bad und beim Zubettbringen die nötige Geduld aufzubringen, auch wenn ich geschafft bin. Obwohl ich wirklich Glück habe und den Abend mein lieber Freund größtenteils übernimmt.

Ich habe Ewigkeiten überlegt, wie ich den Artikel schreiben soll. Denn es gäbe noch abertausend Wörter mehr, die ich dazu schreiben könnte 🙂 Doch das soll es dazu erst mal gewesen sein. Weil es viel Inhalt dazu gibt, habe ich viele Themen nur oberflächlich angeschnitten.

Und wie erzieht ihr eure Kinder? Zu welchem Thema, das ich vielleicht nur erwähnt habe, würdet ihr gerne mehr lesen? Lasst mir doch mal einen Kommentar da, wenn ihr Lust habt. Ich freu mich! 🙂

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